Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V. (DGSS),
Meike Drießen
AIDS-Patienten
sind schmerztherapeutisch unterversorgt
Berlin, Deutscher Schmerzkongress, 11. Oktober 2008: Schmerzen
und Depressionen
bei HIV-Infektion
Abhängig
vom Krankheitsstadium leiden bis zu 97 Prozent aller HIV-
und AIDS-Patienten unter Schmerzen - hervorgerufen durch
die Krankheit selbst und häufig auch durch damit verbundene
Depressionen. 85 Prozent von ihnen erhalten keine ausreichende
Schmerztherapie. Diese Zahlen stellte Prof. Dr. Ingo W.
Husstedt (Universität Münster) jetzt beim Deutschen
Schmerzkongress in Berlin vor.
Unzureichend behandelte Schmerzen und Depressionen - nur
die Hälfte aller depressiven Episoden bei HIV-Patienten
werden diagnostiziert - führten unter anderem dazu,
dass HIV-Patienten ihre antiretroviralen Medikamente nicht
mehr einnähmen. "Depressionen und Schmerz müssen
bei allen HIV-Patienten adäquat behandelt werden",
sagte Prof. Husstedt. "Dabei ist es besonders wichtig,
mögliche Wechselwirkungen mit HIV-Medikamenten zu kennen
und durch die richtige Auswahl der Wirkstoffe zu vermeiden."
Jeder
zweite leidet unter Kopfschmerzen
Schmerzen
sind mit Abstand der häufigsten Grund für die
Krankenhaus-Einweisung von AIDS-Patienten. Bis zu 60 % der
stationären, 70 % der ambulanten und 97 % der Patienten
im Finalstadium leiden unter Schmerzen. Am häufigsten
sind Kopfschmerzen
(55 %), Nervenschmerzen und Speiseröhrenschmerzen (je
30%), Schmerzen in der Mundhöhle (28%), sowie Schmerzen
im Brustraum (22 %) und Bauchschmerzen (20%). Auf einer
Skala von 1 bis 10 wird die Schmerzstärke im Mittel
mit 7,4 angegeben, jeder Patient leidet im Durchschnitt
unter Schmerzen an zwei bis drei verschiedenen Organsystemen.
In Ländern ohne Zugang zur hochaktiven antiretroviralen
Therapie (HAART) sind 98% aller Patienten von Schmerzen
betroffen.
Frauen
und Drogengebraucher werden schlechter behandelt
Ca.
85 % der Patienten mit Schmerzen bei HIV und AIDS erhalten
eine unzureichende Schmerztherapie. Während bei 20%
der HIV-Infizierten keinerlei Medikamente eingesetzt werden,
erhalten 41% NSAR (wie zum Beispiel Aspirin oder Diclophenac),
26% Opioide. Die Patienten, die die HIV-Infektion durch
Drogengebrauch akquiriert haben, werden - wie auch Frauen
und Patienten mit niedrigem Bildungsstand - schlechter schmerztherapeutisch
versorgt. "Häufige Barrieren einer adäquaten
Schmerztherapie HIV-Infizierter sind auf Seiten der Therapeuten
nicht ausreichendes Wissen, fehlende Ausbildung, der Wunsch,
keine Opioide zu verschreiben und die Angst vor Medikamentenmissbrauch
durch die Patienten", stellt Prof. Husstedt fest. "Hier
müssen Vorurteile ab- und schmerztherapeutisches Wissen
aufgebaut werden."
Hintergrund:
Schmerz durch HIV
Die
HIV-Infektion selbst verursacht im Gehirn und Rückenmark
über direkte und indirekte Mechanismen umfassende immunologische
Veränderungen, die z.B. zu neurokognitiven Störungen,
zu Nervenschmerzen und depressiven Episoden führen.
Die Invasion und Vermehrung des HI-Virus ruft durch eine
Aktivierung bestimmter Hirnzellen entzündliche Prozesse
hervor. Das HI-Virusprotein gp120 ist ein starkes Nervengift
und kann eine mechanische Schmerzüberempfindlichkeit
auslösen, die durch neutralisierende Antikörper
blockiert werden kann. Bestimmte Botenstoffe (Neurotransmitter)
werden vermehrt ausgeschüttet und verändern die
Weiterleitung von Schmerzreizen.
Oft
gekoppelt: Schmerz und Depression
Schmerzen
und depressive Erkrankungen sind oft miteinander gekoppelt.
Die HI-Infektion des Gehirns ruft nun zum einen neurokognitive
Störungen unterschiedlichen Ausmaßes hervor,
die das Vollbild einer Demenz erreichen können. Depressivität
ist ein Bestandteil dieser Entwicklung. "Besonders
sensibel ist der Zeitraum nach Mitteilung einer HIV-Infektion,
in dem die Hählfte der Betroffenen eine depressive
Episode erleben, 5% Selbstmordgedanken haben und 2% einen
Selbstmordversuch unternehmen", so Prof. Husstedt.
Studien ergaben eine Häufigkeit depressiver Episoden
bei HIV-Patienten von 57 % und von Angststörungen von
34 %. Oft besteht zusätzlich ein Alkohol- und Drogenmissbrauch.
Nur 50 % der depressiven Episoden HIV-Infizierter werden
korrekt diagnostiziert und nur 10 % adäquat behandelt.
"Eine Ursache dafür ist, dass HIV-Patienten körperliche
Beschwerden in den Vordergrund stellen", erklärt
Prof. Husstedt. "Bei bis zu 40 % der HIV-Infizierten
verbirgt sich hinter Schmerzen eine depressive Episode.
Ärzte sollten bei der Schilderung von Beschwerden wie
verminderte körperliche Leistungsfähigkeit, diffuse,
schlecht lokalisierbare Schmerzen in Bauch, Brust und Kopf,
Muskel- und Gelenkbeschwerden, Verdauungsbeschwerden, Schlafstörungen
und Schwindel hellhörig werden."
Herausforderung
an die Schmerztherapeuten
Aufmerksamkeit
gegenüber Depressivität sei vor allem deshalb
wichtig, weil sie der häufigste Grund für Patienten
ist, die antiretroviralen Medikamente nicht einzunehmen
und somit die Langzeitprognose wesentlich zu verschlechtern.
Auch haben Patienten mit einer zusätzlichen Hepatitis-Infektion,
die mit Interferonen behandelt wird, ein besonders hohes
Risiko, an Depressionen zu erkranken. "Schon die Verdachtsdiagnose
einer depressiven Episode bei einem HIV-Patienten rechtfertigt
eine Therapie mit Medikamenten und psychotherapeutischen
Verfahren", unterstreicht Husstedt. Aufgrund der komplexen
Interaktionen mit den Retrovirustatika müsse das Antidepressivum
sorgfältig ausgewählt werden. Günstig seien
auch wegen geringer Interaktionen mit HAART die Wirkstoffe
Citalopram, Duloxetin und Venlafaxin auf. "Die erheblich
verlängerte Überlebenszeit im AIDS-Stadium von
bis zu zehn Jahren und mehr unter HAART führt zu einer
Zunahme akuter und chronischer Schmerzsyndrome sowie depressiver
Episoden. Die Verbesserung der Situation von HIV-Infizierten
mit Schmerzen und depressiven Episoden stellt eine der Herausforderungen
in Zukunft für Schmerztherapeuten auch in Deutschland
dar", sagte Prof. Husstedt in Berlin.
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